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Eigeninitiativer Aufbau eines Selbsthilfenetzwerkes für pflegende Angehörige Demenzkranker

 

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Inhalt

  1. Hintergrundinformationen
  2. Projektkurzbeschreibung
  3. Die Entstehung der Angehörigen-Initiative Berlin
  4. Besonderheiten des intuitiven Vorgehens
    1. Kontaktaufnahme und Orientierung
    2. Familienberatung
    3. Angehörigengruppen
    4. telefonische Beratung
    5. Hausbesuche
    6. Kurse für pflegende Angehörige
    7. Instrumentelle Hilfe

1. Hintergrundinformationen

Es gibt nichts Gutes - außer man tut es! Als ich vor einigen Jahren meine Ausbildung zur Altenpflegerin abgeschlossen hatte, wollte ich etwas Gutes tun. Und zwar erstens für die Demenzkranken, denen auch ich während meiner langjährigen Tätigkeit in der häuslichen Krankenpflege anfangs hilflos gegenüber stand. Und zweitens den vergessenen Opfern der Alzheimer-Krankheit: den pflegenden Angehörigen, deren Leid ich tagtäglich hautnah miterlebte.

Mit diesen Ansprüchen im Kopf fand ich jedoch keine Einrichtung in Berlin, die mir eine entsprechende Aufgabe bieten konnte.

So entschloß ich mich freiberuflich zu arbeiten. 4 Tage in der Woche betreute ich ganztägig Alzheimer-Kranke im häuslichen Bereich. Den Donnerstag hielt ich mir von Anfang an frei, um an diesem Tag ehrenamtlich Angehörigenarbeit zu leisten.

Jemals eine Angehörigen-Initiative zu gründen, wäre mir damals im Traum nicht eingefallen. Ich versuchte einfach nur, den pflegenden Angehörigen die Hilfe zukommen zu lassen, die sie nach meinem Empfinden gerade am dringendsten brauchten - ich werde darauf gleich noch im Einzelnen eingehen.

Meine ehrenamtliche Arbeit nahm aber im Laufe des ersten Jahres einen so großen Umfang ein, daß ich meine freiberufliche Tätigkeit stark reduzieren mußte. Ich hatte eine Lawine losgetreten, die mich jetzt zu überrollen drohte. Um meiner selbst gestellten Aufgabe auch nur annähernd gerecht zu werden, mußte ich meine freiberufliche Tätigkeit aufgeben.

Damit stellte sich mir aber das Problem der Bezahlung meiner für die Betroffenen so wichtigen Arbeit. Jetzt galt es den dringenden Handlungsbedarf und die Wirksamkeit meiner Arbeit deutlich zu machen. Zunächst beschrieb ich meine inhaltliche Arbeit in einem Konzept. Mein Mann verwandte viel Mühe darauf, darin auch den rein wirtschaftlichen Nutzen überzeugend herauszuarbeiten.

Wir streuten das Konzept breit. Über lange Zeit schien aber niemanden das Leid der Demenzfamilien zu interessieren. Doch dann kam es Schlag auf Schlag:

  • Im September letzten Jahres wurde genau für meine Arbeit eine halbe Planstelle eingerichtet.
  • Dann erhielt ich im Februar dieses Jahres für die geleistete Aufbauarbeit den Altenpflegepreis.
  • Einen Monat später wurde schließlich noch das Konzept der Angehörigen-Initiative mit dem Berliner Gesundheitspreis ausgezeichnet.

Plötzlich stand die Angehörigen-Initiative Berlin im Licht der Öffentlichkeit. Und erst jetzt erfuhr ich, daß meine Arbeit inhaltlich weitgehend der eines Modellprojektes aus Nürnberg gleicht. Im Detail gibt es natürlich erhebliche Unterschiede.

Eine Besonderheit der Angehörigen-Initiative Berlin ist es z.B., daß deren Mitglieder auch außerhalb der Gruppentreffen Freud und Leid miteinander teilen und füreinander da sind - wie eine große Familie. Liegt das vielleicht an diesen kleinen Unterschieden?

2. Projektkurzbeschreibung

Lassen Sie mich jetzt kurz - wie angekündigt - die Arbeitsweise der Angehörigen-Initiative Berlin beschreiben. Bis heute besteht die Angehörigen-Initiative noch immer nur aus der mir zugedachten halben Planstelle - ich werde daher hauptsächlich über meine eigene Arbeit berichten. Nicht vergessen will ich dabei allerdings die verschiedenen Helfer, die mich unterstützen. Besonders hervorheben möchte ich jedoch die außergewöhnliche Initiative der Angehörigen selbst, die dem Namen unseres Selbsthilfeprojektes alle Ehre machen.

Mein Ziel ist es, für pflegende Angehörige von Demenzkranken - und nur von Demenzkranken - ein umfassendes und vor allem wohnortnahes Betreuungsnetz aufzubauen. Mit einem Bündel von unterstützenden Maßnahmen will ich den Pflegenden psychisch entlasten, insbesondere will ich ihnen helfen, ihre soziale Isolation zu durchbrechen. Weiter will ich die Bereitschaft der Angehörigen zur Pflege fördern und ihre Pflegekompetenz erhöhen. So versuche ich auch unterschwellig, die verschiedenen Techniken der Validation zu vermitteln.

Bei mir steht der pflegende Angehörige aus zwei Gründen im Mittelpunkt. Erstens will ich ihm helfen, sein Belastungserleben zu bewältigen. Zweitens bin ich der Überzeugung, daß ich über den Angehörigen die Lebensqualität auch des Demenzkranken am wirkungsvollsten erhöhe.

Diese Hilfen sind alle auf das innere Spannungsfeld der Demenzfamilie gerichtet. Es gibt aber auch noch ein äußeres Spannungsfeld. Und zwar zwischen den Betroffenen und den Sozialleistungsträgern, Ärzten sowie ambulanten und stationären Pflegediensten. Hier bemühe ich mich um eine qualitätsgerechte Bereitstellung der Leistungen - und wo das nicht möglich ist - wenigstens um Schadensbegrenzung.

Die pflegenden Angehörigen können bei mir aus mehreren Hilfsangeboten diejenigen auswählen, die sie in ihrer speziellen Lebenslage am dringendsten brauchen. Ich biete Fortbildungsveranstaltungen an, führe persönliche und telefonische Beratungen durch, mache Hausbesuche und leite diverse Gesprächsgruppen - alle mit gleichzeitiger Krankenbetreuung.

Damit die Angehörigen diese Hilfen überhaupt in Anspruch nehmen können, biete ich sie wohnortnah an. In sieben Berliner Stadtbezirken gibt es die Angehörigen-Initiative bereits. Im Januar kommen zwei weitere Bezirke hinzu.

Als Anlaufstellen und Treffpunkte benutze ich Selbsthilfekontaktstellen. Langfristiges Ziel ist die flächendeckende Versorgung Berlins. Langfristig möchte ich erreichen, daß die Angehörigen-Initiative Berlin flächendeckend pflegende Angehörige Demenzkranker versorgt. Das sind immerhin ca. 34.000! Es versteht sich wohl von selbst, daß ich das als Einzelkämpferin nicht bewerkstelligen kann. Ich habe jetzt für mein Projekt einen neuen Träger gefunden, der sich auf dieses Ziel mit verpflichtet hat.

3. Die Entstehung der Angehörigen-Initiative Berlin

Ich möchte nun kurz den Weg aufzeigen, den ich von meiner eingangs erwähnten Motivation - etwas Gutes tun zu wollen - gegangen bin, bis zu dem strukturierten Projekt, das die Angehörigen-Initiative Berlin jetzt darstellt. Dieser Weg und die Rahmenbedingungen begründen nämlich das Konzept meiner Arbeit.

Alles fing damit an, daß ich im September 1993 der Alzheimer Gesellschaft Berlin meine ehrenamtliche Mitarbeit anbot. Meistens vertrat ich dort die hauptamtliche Mitarbeiterin am Telefon. Dabei merkte ich sehr schnell, daß Telefonberatung allein nicht ausreicht, um den Angehörigen zu helfen, den schwierigen Pflegealltag zu bewältigen. Deshalb suchte ich nach weiteren Formen der Unterstützung.

Außerdem konnte es doch wohl nicht sein, daß es in unserer riesigen Hauptstadt nur eine einzige Beratungsstelle geben sollte. Man kann doch keinem Angehörigen zumuten, mit seinem Kranken 1 1/2 Sunden durch Berlin zu fahren und mehrfach umzusteigen. Welche Panik kann die Hektik einer Großstadt bei einem Demenzkranken auslösen?

So entschloß ich mich, auch im Ostteil Berlins eine Beratungssprechstunde einzurichten. Hierfür bot sich mir die Selbsthilfekontaktstelle in Berlin-Marzahn an. Selbsthilfekontaktstellen gibt es in Berlin in vielen Bezirken. Das sind öffentlich geförderte, gemeinnützige Einrichtungen, die Selbsthilfegruppen die notwendige Infrastruktur zu deren Aufbau und Erhalt bieten.

Um meine Zielgruppe zu erreichen, versuchte ich über vielfältige Kanäle mich bekanntzumachen. Ich wandte mich an die Medien, leistete Gremienarbeit, besuchte soziale Institutionen usw. Bereits zu dieser Zeit baten mich zwei weitere Selbsthilfekontaktstellen auch dort tätig zu werden. So begann ich mit meiner Arbeit gleichzeitig in drei Ostberliner Stadtbezirken: Marzahn, Friedrichshain und Berlin-Mitte.

Bereits während meiner ersten Beratungssprechstunden stellte ich fest, daß ich mir für eine wirksame Beratung ein persönliches Bild von den Lebensumständen der Betroffenen verschaffen muß. Das war für mich eine wichtige Voraussetzung, um praktische Anleitungshilfen geben zu können. Außerdem wollte ich auch die Menschen erreichen, die aufgrund der Pflegesituation nicht in die Beratungssprechstunde kommen konnten. Meine Hausbesuche waren daher der nächste Schritt zu einer individuellen - der Pflegesituation angemessenen - Beratung.

Da ich ja meine Beratungssprechstunden in jedem Bezirk nur zweimal monatlich anbot, gab ich von Anfang an jedem Angehörigen auch meine private Telefonnummer, um für Kriseninterventionen zwischen den Beratungssprechstunden zur Verfügung zu stehen. Wie ungeheuer wichtig das für die Angehörigen ist, zeigt folgende Begebenheit:

Eine pflegende Angehörige sagte mir einmal: "Allein die Gewißheit, jederzeit aufgefangen zu werden, gibt mir die Kraft zum Durchhalten." Diese Frau hat in der Tat nie von diesem Angebot Gebrauch gemacht - wenn wir telefoniert haben, habe ich sie angerufen und nicht umgekehrt!

Im Sommer 1994 entstanden die ersten Gesprächsgruppen mit gleichzeitiger Krankenbetreuung. Neben der Wohnortnähe war die Krankenbetreuung für viele Angehörige die zweite unverzichtbare Voraussetzung, um überhaupt an dem Gesprächskreis teilnehmen zu können. Das Honorar für die Krankenbetreuung kam anfangs noch von der Alzheimer Gesellschaft Berlin.

In der Folgezeit erhielt die bis dahin geleistete Aufbauarbeit eine derartige Wachstumsdynamik, daß sich die Alzheimer Gesellschaft Berlin von mir distanzierte und mir empfahl, einen anderen Träger für den weiteren Ausbau zu suchen. Wie bereits erwähnt, beschrieb ich nun meine Arbeit in einem Konzept. Die zahlreichen Bemühungen, damit einen Träger zu finden, blieben jedoch zunächst ohne Erfolg.

In dieser Zeit entwickelte ich - mit tatkräftiger Unterstützung durch meinen Mann - ein Kursprogramm "Über den einfühlsamen Umgang mit den Defiziten Alzheimer-Kranker". Für solche Kurse standen Geldmittel bereit, nicht jedoch für die anderen Formen der Angehörigenarbeit. Neben den Beratungssprechstunden, Hausbesuchen und der telefonischen Krisenintervention war diese umfangreiche Vortragsreihe das vierte Hilfsangebot, das meine Arbeit auszeichnete. Nachgefragt werden meine Vorträge allerdings vor allem von Berufsqualifizierungsgesellschaften, Sozialstationen und auch an der Klinik der Freien Universität Berlin. Die angehenden Ärzte sollen lernen, daß es neben der medikamentösen Therapie auch eine sprechende Medizin gibt. Außerdem sollen sie darauf aufmerksam gemacht werden, neben dem Demenzkranken auch den pflegenden Angehörigen zu beachten.

Seit September 1995 fördert nun die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales meine Arbeit. Die Trägerschaft übernahm das Sozialpädagogische Institut, das auch die Selbsthilfekontaktstelle im Ostberliner Bezirk Marzahn betreibt. Damit ist in Berlin erstmalig der Versuch geglückt, aus dem persönlichen Engagement einer Einzelperson heraus eine - wenn auch nur halbe - Planstelle zu schaffen und zwar für ein Projekt, das es in dieser Form in Berlin bis dahin noch nicht gab. Aus meinem allgemeinen Bemühen, etwas Gutes für die pflegenden Angehörigen Demenzkranker zu tun, ist ein kleines Netzwerk entstanden, das inzwischen seine Eigendynamik entwickelt:

Langjährig psychosozial gestützte Angehörige sind stolz darauf, der Angehörigen-Initiative Berlin anzugehören. Einige von ihnen entwickeln ein erstaunliches Kräftepotential, das sie anderen Betroffenen zur Verfügung stellen. Um einander zu helfen, übernehmen sie Aufgaben wie z. B. die Leitung ihrer Gesprächsgruppe. Eine Angehörige führt inzwischen selbständig Beratungssprechstunden durch. Etliche unterstützen mich bei der Öffentlichkeitsarbeit, vertreten die Angehörigen-Initiative in Gremien und bieten sich bei Informationsveranstaltungen als Ansprechpartner an. Das schafft mir den Freiraum, den ich brauche, um in weiteren Bezirken Berlins entsprechende Aktivitäten zu entwickeln. Der Projekttitel "Angehörigen-Initiative Berlin" steht somit für dieses Engagement der pflegenden Angehörigen.

Das Konzept der Angehörigen-Initiative wird inzwischen aus ganz Deutschland angefordert und vereinzelt sogar aus dem Ausland. Auch auf einem internationalem Workshop konnte ich die Arbeit der Angehörigen-Initiative vorstellen. Das verhalf mir zu internationalen Kontakten, die mich befähigten, Gelder bei der Europäischen Union zu beantragen.

4. Besonderheiten des intuitiven Vorgehens

Ich denke, es ist deutlich geworden, wie ich intuitiv und pragmatisch an die ganze Sache herangegangen bin. Dieser Kongreß steht unter dem Titel "Praktische Umsetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse". Da sich Theorie und Praxis gegenseitig befruchten sollen, will ich mit meinen positiven Erfahrungen aus der Praxis Anregungen für alternative bzw. ergänzende wissenschaftliche Überlegungen bieten. Die Erfahrungen aus meiner Arbeit bestätigen aber auch viele wissenschaftliche Erkenntnisse.

Ich möchte jetzt auf die Besonderheiten der Angehörigen-Initiative Berlin zu folgenden Themen hinweisen:

  • Kontaktaufnahme und Orientierung,
  • Familienberatung,
  • Angehörigengruppen,
  • telefonische Beratung,
  • Hausbesuche,
  • Kurse für pflegende Angehörige und
  • Instrumentelle Hilfe

4.1 Kontaktaufnahme und Orientierung

Die Angehörigen nehmen i.d.R mit mir telefonisch Kontakt auf. Danach kommt es üblicherweise zu einem ersten persönlichen Gespräch in der Beratungssprechstunde der nächstgelegenen Selbsthilfekontaktstelle. Den Inhalt dieser Gespräche bestimmen die Ratsuchenden selbst. Meistens werden problematische Situationen dargestellt und die daraus resultierenden enormen psychischen Belastungen. Während dieser ersten - meist stark gefühlsbetonten - Gespräche wird der Grundstein für ein dauerhaftes Vertrauensverhältnis gelegt. "Endlich hat mir mal jemand zugehört und geglaubt!" höre ich häufig am Ende eines solchen Gespräches. Allein durch mitfühlendes Zuhören erreichen wir eine erste psychische Entlastung. Trotzdem kommt es vor, daß Ratsuchende danach keine weiteren Hilfen in Anspruch nehmen.

In der Beratungssprechstunde erörtere ich auch erste Interventionsschritte an: Fachärztliche Diagnose, Leistungen der Pflegeversicherung und Vorsorgevollmacht bzw. die gesetzliche Betreuung. Eine zeitaufwendige strukturierte Problem- und Zielanalyse kann ich mit meiner z.Zt. noch halben Planstelle jedoch beim besten Willen nicht durchführen.

4.2 Familienberatung

Familienberatungen finden nur auf ausdrücklichen Wunsch der Ratsuchenden statt. Daran beteiligten sich u.a. auch jugendliche Kinder bzw. Enkel des Erkrankten. Diese leiden nämlich ganz besonders unter der aus dem Gleichgewicht geratenen häuslichen Situation. Im Verlauf dieser Gespräche wecke ich Verständnis für die schwierige Lebenslage des Kranken und diskutiere Möglichkeiten des konfliktarmen Umgangs. Solche Gespräche führten zur Entlastung der Hauptpflegeperson auf zweierlei Weise:

  • Zum einen erörterten wir gemeinsam, wer welche Pflegeleistungen noch in der Familie erbringen kann.
  • Zum anderen weckte die gemeinsame Sichtweise der neu entstandenen familiären Situation gegenseitiges Verständnis.

4.3 Angehörigengruppen

Die Gesprächsgruppen sind das Herzstück meiner Arbeit. Alle Gruppen werden von nur einer Person geleitet und nicht - wie vielleicht wünschenswert - von zweien, z. B. einer Altenpflegerin und einem Psychologen. Wie ich eingangs bereits erwähnte, bin ich "nur" eine Altenpflegerin. Mein angelassenes Wissen und meine psychogeriatrische Zusatzausbildung bei Naomy Feil sind mir zwar wichtig, doch kompetent machen mich erst meine langjährigen Erfahrungen. Diese praktische Erfahrung im Umgang mit Demenzkranken ist m. E. unverzichtbar für eine gute Angehörigenberatung.

Ich begleite meine Gruppen wesentlich länger als ein Jahr. Oftmals werden Gruppen ja nur für ein halbes Jahr fachlich geleitet. Mir ist unbegreiflich, wie man pflegende Angehörige nach einem halben Jahr sich selbst überlassen kann: Denn auch danach treten - wegen des fortschreitenden Krankheitsverlaufes - ständig neue psychische und medizinische Probleme auf. Dafür kann ich doch keine allgemeinen Lösungen auf Vorrat anbieten, die der pflegende Angehörige sozusagen nur noch bei Bedarf aus der Schublade zu ziehen braucht. Fast jedes Problem erfordert auch eine individuelle Lösung - nach einem halben Jahr genauso wie zu Beginn der Beratung.

Alle Themen der Angehörigenberatung nehmen in den Gesprächsgruppen etwa gleichen Raum ein, also Wissen, Handeln, Gefühle und Hilfen. Wir besprechen gemeinsam häufig auch Themen, die man naheliegenderweise eher zum Gegenstand einer Einzelberatung machen würde. Dies bedeutet natürlich, daß der Einzelne in der Gruppe relativ viel Redezeit braucht. Diese Zeit bekommt auch jeder. Ich bin immer wieder erstaunt, wie wichtig der Gruppe die scheinbar ganz persönlichen Probleme des Einzelnen sind. Die anderen ahnen nämlich, daß das angesprochene "private" Problem für sie früher oder später sehrwohl relevant werden könnte. Irgendeiner hat immer auch aus eigener Erfahrung etwas zu diesem Thema beizutragen. Dies führt mit der Zeit zu einem unglaublichen Zusammenhalt in der Gruppe.

Ich sagte eben so salopp, daß jeder sein gerüttelt Maß an Redezeit bekäme. Das geht natürlich nur, wenn die Gruppen relativ klein sind und bleiben. Wenn acht Teilnehmer zu einer Gruppensitzung kommen, so empfinden wir das als eine große Gruppe. in der Literatur werden dagegen acht Teilnehmer meist als Untergrenze genannt. Viele Gruppen beginnen mit 12 Teilnehmern. Ich dagegen habe selbst mit Kleinstgruppen von drei oder vier Pflegenden ebenso erfolgreich gearbeitet, wie mit meiner durchschnittlichen Gruppengröße von 6 Angehörigen. Bis jetzt haben alle Teilnehmer solcher "Minigruppen" den breiten Raum, der ihnen hier geboten wurde, sichtlich genossen und wirksam genutzt. Dabei haben sie die intensive Zuwendung, die ihnen in der kleineren Gruppe zuteil kam, als besonders wohltuend empfunden.

Nachdem des öfteren zehn und mehr Teilnehmer in eine Gesprächsgruppe kamen, machte ich den Vorschlag, die Gruppe zu teilen. Mein Ansinnen stieß jedoch auf heftigen Protest. Niemand wollte freiwillig den "Familenverband" verlassen. Inzwischen ist die Gruppe durch natürliche Fluktuation auf eine durchschnittliche Größe geschrumpft. Aus dieser Erfahrung heraus werde ich diese Gruppe nicht weiter aufstocken, sondern eine zweite einrichten.

Die von mir initiierten Gesprächsgruppen starten nicht mit einer festen Teilnehmerzahl von z.B. acht Pflegenden. Vielmehr baue ich die Gruppen pro Stadtbezirk allmählich auf. Auf diese Weise vermeide ich unzumutbare Wartezeiten.

Sind meine Gruppen nun offene oder geschlossene Gruppen? Sie sind beides - und doch auch beides wieder nicht: Sie sind geschlossene Gruppen in dem Sinne, wie auch eine Familie als "geschlossen" anzusehen ist. D.h. mit der Zeit scheiden einzelne Mitglieder aus und neue werden aufs herzlichste aufgenommen. In diesem Sinne ist die Gruppe wiederum offen. Diese Form der Gruppe bietet gute Voraussetzungen, um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen. Und nur in einer von gegenseitigem Vertrauen geprägten Atmosphäre sind Angehörige bereit, über ihre tiefsten Gefühle zu sprechen.

So erwarten auch alle Gruppenmitglieder voneinander regelmäßiges Erscheinen. Wenn jemand mal unentschuldigt fernbleibt wird stets nachgefragt. Das Fernbleiben könnte ja ein Hinweis auf eine kritische Situation sein. Diese rege Anteilnahme am gegenseitigen Wohlbefinden und das wechselseitige Vertrauen sind das Markenzeichen der Angehörigen-Initiative Berlin.

Von Anfang an habe ich darauf geachtet, daß den Angehörigen das Gefühl geboten wird, erwartet zu werden und sie hier Zuwendung empfangen. Dazu gehört auch eine schöne Atmosphäre des Gruppenraums. Sie bringt Licht in den tristen Pflegealltag. Die Gruppenteilnehmer beköstigen sich nicht nur mit Kaffee und Kuchen, oftmals stellen sie auch Blumen auf den Tisch. Auch ihr Umgang miteinander ist nicht immer so ernst wie der schwierige Pflegealltag: Es darf gelacht werden! Zu erleben, daß trotz fortgeschrittenem Krankheitsprozeß auch noch Lachen, vorsichtiger Optimismus und Gemeinsamkeit möglich sind, macht den bedrückenden Pflegealltag erträglicher.

Die Gruppentreffen dauern ca. zwei Stunden. Allerdings kann es dann eine weitere halbe Stunde dauern, bis sich die letzten Angehörigen voneinander sehr herzlich verabschiedet haben, nicht ohne sich noch einmal gegenseitig Mut zugesprochen zu haben.

Wie wohltuend diese Art von Gruppenführung empfunden wird, drückt eine Pflegende mit folgenden Worten aus: "Mit hängenden Flügeln bin ich gekommen und beflügelt gehe ich jetzt nach Hause."

Die Demenzkranken werden grundsätzlich in einem Nebenraum fachlich betreut. Auch ihnen werden Getränke und Gebäck geboten. Die Trennung der beiden Gruppen ermöglicht es den Angehörigen, frei über ihre Probleme zu sprechen, ohne das ohnehin labile Selbstbewußtsein der Kranken weiter zu beschädigen. Auch können Angehörige weinen, ohne daß das die Kranken beunruhigt.

Gelegentlich unternehme ich mit den Angehörigen und ihren Kranken auch Ausflüge z.B. in ein geschmackvoll eingerichtetes Café. Ein gediegenes Ambiente, frische Blumen auf dem Tisch und leuchtende Kerzen bewirken eine innere Entspannung sowohl bei den Kranken als auch bei den Angehörigen. Die Sicherheit der Gruppe bietet einen beschützenden Rahmen, der für alle Beteiligten ein Stück Normalität wieder herstellt - wenn auch nur für kurze Zeit. Doch von diesen Erlebnissen zehren alle Beteiligten noch recht lange. Außerdem macht das auch Mut, so etwas auf eigene Faust zu wagen.

4.4 telefonische Beratung

Alles was ich bis jetzt erzählt habe, leiste ich im Prinzip weiterhin ehrenamtlich. Denn allein mit der Arbeit am Telefon ist meine halbe Stelle schon ausgeschöpft. Dazu gehören die Kontaktaufnahmen, organisatorischen Telefonate und auch meine zahlreichen telefonischen Gespräche mit Sozialleistungsträgern. Ständig werde ich mit Problemen aus dem eingangs dargestellten äußeren Spannungsfeld konfrontiert. Dieses Spannungsfeld stellt für die pflegenden Angehörigen eine zusätzliche enorme Belastung dar.

Ich versuche deshalb, auf die Sozialleistungsträger Einfluß zu nehmen, damit diese ihre Leistungen qualitätsgerecht bereitstellen. Die Ignoranz, der ich mich dabei ausgesetzt sehe, ist schier unglaublich! Ich kann damit umgehen, die meisten Angehörigen aber nicht. Deshalb mache ich mich für sie stark. Darauf werde ich gleich noch ausführlich eingehen.

In erster Linie stellt die telefonische Beratung in kritischen Situationen die wirkungsvollste Ergänzung zur Beratungssprechstunde dar. Ich wiederhole es noch einmal: Allein die Gewißheit, immer aufgefangen zu werden, gibt vielen die Kraft zum Durchhalten. Eine Telefonnummer als Rettungsanker! Auch das ist sprechende Medizin. Eine Medizin, die von den pflegenden Angehörigen übrigens sehr verantwortungsbewußt in Anspruch genommen wird.

Viele der pflegenden Angehörigen suchen und finden auch untereinander Beistand. Das geschieht zwar meistens telefonisch, doch besuchen sich die Angehörigen mit den Kranken auch gegenseitig. Und das ist eine weitere Besonderheit der Angehörigen-Initiative Berlin.

4.5 Hausbesuche

Aufwendiger, intimer persönlicher ist der Hausbesuch - für mich eine Chance, das private Umfeld kennen zu lernen. Nur so bin ich in der Lage, praxisgerechte Tips zur Erleichterung der Pflegesituation geben zu können. Einen ersten Hausbesuch mache ich möglichst bald nach der Kontaktaufnahme - danach nur noch in großen Abständen. Bei Angehörigen, die keine familiäre Unterstützung erhalten, würde ich liebend gerne Hausbesuche in kürzeren Abständen manchen. Jedoch - ich kann mich nicht zerreißen.

Viel zu kurz kommen vor allem die Angehörigen, die aufgrund ihrer Pflegesituation immobil geworden sind. Dabei wäre diese Arbeit so wirkungsvoll. "Ich habe Angst, das Sprechen zu verlernen, wenn Sie nicht mehr kommen" sagte mir oft ein pflegender Ehemann. Über zwei Jahre lang habe ich ihn und seine demenzkranke Frau alle vierzehn Tage regelmäßig besucht. Durch diese kontinuierliche Betreuung war es ihm möglich, seine Frau zuhause zu versorgen, bis sie schließlich in seinen Armen ganz ruhig und zufrieden starb. Er ist glücklich darüber, ihr bis zum letzten Atemzug die notwendige Geborgenheit gegeben zu haben, die sie brauchte.

Die Not der allein Pflegenden, die aufgrund der Pflegesituation immobil geworden sind, ist riesengroß - aber klein die Zahl derjenigen, die sich darum kümmern, diese Not zu lindern.

4.6 Kurse für pflegende Angehörige

Jetzt noch eine kurze Anmerkung zum Thema Kurse für pflegende Angehörige: Der von mir ausgearbeitete Kurs für pflegende Angehörige "Über den einfühlsamen Umgang mit den Defiziten der Demenzkranken", verfolgte zwei Ziele:

  • Zum einen wollte ich mit den Kursteilnehmern eine Gesprächsgruppe aufbauen.
  • Zum anderen sollte die inhaltliche Arbeit der Gesprächsgruppen von der reinen Wissensvermittlung entlastet werden.

Allein, die Krankenkassen, die ja Kurse für pflegende Angehörige anbieten, waren zu keiner Kooperation bereit. So ist wegen des fehlenden systematischen Zugangs zur Zielgruppe bislang nur ein einziger Kurs dieser Art zustande gekommen - und auch der war noch zur Hälfte mit Pflegefachkräften besetzt. Seit Neuestem scheint sich aber hier zumindest eine große Krankenkasse endlich zu bewegen.

4.7 Instrumentelle Hilfe

Auch zur instrumentellen Hilfe nur eine kurze Anmerkung: Mit steigendem Bekanntheitsgrad der Angehörigen-Initiative Berlin wuchsen auch die Kontakte zu zahlreichen Einrichtungen des Altenhilfebereiches. Ich gebe die Informationen über diese Einrichtungen an die pflegenden Angehörigen weiter und zwar bei allen genannten Beratungsformen. Allerdings tauschen die Angehörigen ihre positiven und negativen Erfahrungen mit diesen Einrichtungen auch direkt aus.

© Rosemarie Drenhaus-Wagner Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V.

 

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