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Es gibt nichts Gutes - außer man tut es! Als ich vor einigen
Jahren meine Ausbildung zur Altenpflegerin abgeschlossen hatte,
wollte ich etwas Gutes tun. Und zwar erstens für die Demenzkranken,
denen auch ich während meiner langjährigen Tätigkeit
in der häuslichen Krankenpflege anfangs hilflos gegenüber
stand. Und zweitens den vergessenen Opfern der Alzheimer-Krankheit:
den pflegenden Angehörigen, deren Leid ich tagtäglich
hautnah miterlebte.
Mit diesen Ansprüchen im Kopf fand ich jedoch keine Einrichtung
in Berlin, die mir eine entsprechende Aufgabe bieten konnte.
So entschloß ich mich freiberuflich zu arbeiten. 4 Tage
in der Woche betreute ich ganztägig Alzheimer-Kranke im häuslichen
Bereich. Den Donnerstag hielt ich mir von Anfang an frei, um an
diesem Tag ehrenamtlich Angehörigenarbeit zu leisten.
Jemals eine Angehörigen-Initiative zu gründen, wäre
mir damals im Traum nicht eingefallen. Ich versuchte einfach nur,
den pflegenden Angehörigen die Hilfe zukommen zu lassen,
die sie nach meinem Empfinden gerade am dringendsten brauchten
- ich werde darauf gleich noch im Einzelnen eingehen.
Meine ehrenamtliche Arbeit nahm aber im Laufe des ersten Jahres
einen so großen Umfang ein, daß ich meine freiberufliche
Tätigkeit stark reduzieren mußte. Ich hatte eine Lawine
losgetreten, die mich jetzt zu überrollen drohte. Um meiner
selbst gestellten Aufgabe auch nur annähernd gerecht zu werden,
mußte ich meine freiberufliche Tätigkeit aufgeben.
Damit stellte sich mir aber das Problem der Bezahlung meiner für
die Betroffenen so wichtigen Arbeit. Jetzt galt es den dringenden
Handlungsbedarf und die Wirksamkeit meiner Arbeit deutlich zu
machen. Zunächst beschrieb ich meine inhaltliche Arbeit in
einem Konzept. Mein Mann verwandte viel Mühe darauf, darin
auch den rein wirtschaftlichen Nutzen überzeugend herauszuarbeiten.
Wir streuten das Konzept breit. Über lange Zeit schien aber
niemanden das Leid der Demenzfamilien zu interessieren. Doch dann
kam es Schlag auf Schlag:
Im September letzten Jahres wurde genau für meine Arbeit
eine halbe Planstelle eingerichtet.
Dann erhielt ich im Februar dieses Jahres für die geleistete
Aufbauarbeit den Altenpflegepreis.
Einen Monat später wurde schließlich noch das Konzept
der Angehörigen-Initiative mit dem Berliner Gesundheitspreis
ausgezeichnet.
Plötzlich stand die Angehörigen-Initiative Berlin im
Licht der Öffentlichkeit. Und erst jetzt erfuhr ich, daß
meine Arbeit inhaltlich weitgehend der eines Modellprojektes aus
Nürnberg gleicht. Im Detail gibt es natürlich erhebliche
Unterschiede.
Eine Besonderheit der Angehörigen-Initiative Berlin ist es
z.B., daß deren Mitglieder auch außerhalb der Gruppentreffen
Freud und Leid miteinander teilen und füreinander da sind
- wie eine große Familie. Liegt das vielleicht an diesen
kleinen Unterschieden?
Lassen Sie mich jetzt kurz - wie angekündigt - die Arbeitsweise
der Angehörigen-Initiative Berlin beschreiben. Bis heute
besteht die Angehörigen-Initiative noch immer nur aus der
mir zugedachten halben Planstelle - ich werde daher hauptsächlich
über meine eigene Arbeit berichten. Nicht vergessen will
ich dabei allerdings die verschiedenen Helfer, die mich unterstützen.
Besonders hervorheben möchte ich jedoch die außergewöhnliche
Initiative der Angehörigen selbst, die dem Namen unseres
Selbsthilfeprojektes alle Ehre machen.
Mein Ziel ist es, für pflegende Angehörige von Demenzkranken
- und nur von Demenzkranken - ein umfassendes und vor allem wohnortnahes
Betreuungsnetz aufzubauen. Mit einem Bündel von unterstützenden
Maßnahmen will ich den Pflegenden psychisch entlasten, insbesondere
will ich ihnen helfen, ihre soziale Isolation zu durchbrechen.
Weiter will ich die Bereitschaft der Angehörigen zur Pflege
fördern und ihre Pflegekompetenz erhöhen. So versuche
ich auch unterschwellig, die verschiedenen Techniken der Validation
zu vermitteln.
Bei mir steht der pflegende Angehörige aus zwei Gründen
im Mittelpunkt. Erstens will ich ihm helfen, sein Belastungserleben
zu bewältigen. Zweitens bin ich der Überzeugung, daß
ich über den Angehörigen die Lebensqualität auch
des Demenzkranken am wirkungsvollsten erhöhe.
Diese Hilfen sind alle auf das innere Spannungsfeld der Demenzfamilie
gerichtet. Es gibt aber auch noch ein äußeres Spannungsfeld.
Und zwar zwischen den Betroffenen und den Sozialleistungsträgern,
Ärzten sowie ambulanten und stationären Pflegediensten.
Hier bemühe ich mich um eine qualitätsgerechte Bereitstellung
der Leistungen - und wo das nicht möglich ist - wenigstens
um Schadensbegrenzung.
Die pflegenden Angehörigen können bei mir aus mehreren
Hilfsangeboten diejenigen auswählen, die sie in ihrer speziellen
Lebenslage am dringendsten brauchen. Ich biete Fortbildungsveranstaltungen
an, führe persönliche und telefonische Beratungen durch,
mache Hausbesuche und leite diverse Gesprächsgruppen - alle
mit gleichzeitiger Krankenbetreuung.
Damit die Angehörigen diese Hilfen überhaupt in Anspruch
nehmen können, biete ich sie wohnortnah an. In sieben Berliner
Stadtbezirken gibt es die Angehörigen-Initiative bereits.
Im Januar kommen zwei weitere Bezirke hinzu.
Als Anlaufstellen und Treffpunkte benutze ich Selbsthilfekontaktstellen.
Langfristiges Ziel ist die flächendeckende Versorgung Berlins.
Langfristig möchte ich erreichen, daß die Angehörigen-Initiative
Berlin flächendeckend pflegende Angehörige Demenzkranker
versorgt. Das sind immerhin ca. 34.000! Es versteht sich wohl
von selbst, daß ich das als Einzelkämpferin nicht bewerkstelligen
kann. Ich habe jetzt für mein Projekt einen neuen
Träger gefunden, der sich auf dieses Ziel mit verpflichtet
hat.
Ich möchte nun kurz den Weg aufzeigen, den ich von meiner
eingangs erwähnten Motivation - etwas Gutes tun zu wollen
- gegangen bin, bis zu dem strukturierten Projekt, das die Angehörigen-Initiative
Berlin jetzt darstellt. Dieser Weg und die Rahmenbedingungen begründen
nämlich das Konzept meiner Arbeit.
Alles fing damit an, daß ich im September 1993 der Alzheimer
Gesellschaft Berlin meine ehrenamtliche Mitarbeit anbot. Meistens
vertrat ich dort die hauptamtliche Mitarbeiterin am Telefon. Dabei
merkte ich sehr schnell, daß Telefonberatung allein nicht
ausreicht, um den Angehörigen zu helfen, den schwierigen
Pflegealltag zu bewältigen. Deshalb suchte ich nach weiteren
Formen der Unterstützung.
Außerdem konnte es doch wohl nicht sein, daß es in
unserer riesigen Hauptstadt nur eine einzige Beratungsstelle geben
sollte. Man kann doch keinem Angehörigen zumuten, mit seinem
Kranken 1 1/2 Sunden durch Berlin zu fahren und mehrfach umzusteigen.
Welche Panik kann die Hektik einer Großstadt bei einem Demenzkranken
auslösen?
So entschloß ich mich, auch im Ostteil Berlins eine Beratungssprechstunde
einzurichten. Hierfür bot sich mir die Selbsthilfekontaktstelle
in Berlin-Marzahn an. Selbsthilfekontaktstellen gibt es in Berlin
in vielen Bezirken. Das sind öffentlich geförderte,
gemeinnützige Einrichtungen, die Selbsthilfegruppen die notwendige
Infrastruktur zu deren Aufbau und Erhalt bieten.
Um meine Zielgruppe zu erreichen, versuchte ich über vielfältige
Kanäle mich bekanntzumachen. Ich wandte mich an die Medien,
leistete Gremienarbeit, besuchte soziale Institutionen usw. Bereits
zu dieser Zeit baten mich zwei weitere Selbsthilfekontaktstellen
auch dort tätig zu werden. So begann ich mit meiner Arbeit
gleichzeitig in drei Ostberliner Stadtbezirken: Marzahn, Friedrichshain
und Berlin-Mitte.
Bereits während meiner ersten Beratungssprechstunden stellte
ich fest, daß ich mir für eine wirksame Beratung
ein persönliches Bild von den Lebensumständen der Betroffenen
verschaffen muß. Das war für mich eine wichtige Voraussetzung,
um praktische Anleitungshilfen geben zu können. Außerdem
wollte ich auch die Menschen erreichen, die aufgrund der Pflegesituation
nicht in die Beratungssprechstunde kommen konnten. Meine Hausbesuche
waren daher der nächste Schritt zu einer individuellen -
der Pflegesituation angemessenen - Beratung.
Da ich ja meine Beratungssprechstunden in jedem Bezirk nur zweimal
monatlich anbot, gab ich von Anfang an jedem Angehörigen
auch meine private Telefonnummer, um für Kriseninterventionen
zwischen den Beratungssprechstunden zur Verfügung zu stehen.
Wie ungeheuer wichtig das für die Angehörigen ist, zeigt
folgende Begebenheit:
Eine pflegende Angehörige sagte mir einmal: "Allein
die Gewißheit, jederzeit aufgefangen zu werden, gibt mir
die Kraft zum Durchhalten." Diese Frau hat in der Tat nie
von diesem Angebot Gebrauch gemacht - wenn wir telefoniert haben,
habe ich sie angerufen und nicht umgekehrt!
Im Sommer 1994 entstanden die ersten Gesprächsgruppen
mit gleichzeitiger Krankenbetreuung. Neben der Wohnortnähe
war die Krankenbetreuung für viele Angehörige die zweite
unverzichtbare Voraussetzung, um überhaupt an dem Gesprächskreis
teilnehmen zu können. Das Honorar für die Krankenbetreuung
kam anfangs noch von der Alzheimer Gesellschaft Berlin.
In der Folgezeit erhielt die bis dahin geleistete Aufbauarbeit
eine derartige Wachstumsdynamik, daß sich die Alzheimer
Gesellschaft Berlin von mir distanzierte und mir empfahl, einen
anderen Träger für den weiteren Ausbau zu suchen. Wie
bereits erwähnt, beschrieb ich nun meine Arbeit in einem
Konzept. Die zahlreichen Bemühungen, damit einen Träger
zu finden, blieben jedoch zunächst ohne Erfolg.
In dieser Zeit entwickelte ich - mit tatkräftiger Unterstützung
durch meinen Mann - ein Kursprogramm "Über den
einfühlsamen Umgang mit den Defiziten Alzheimer-Kranker".
Für solche Kurse standen Geldmittel bereit, nicht jedoch
für die anderen Formen der Angehörigenarbeit. Neben
den Beratungssprechstunden, Hausbesuchen und der telefonischen
Krisenintervention war diese umfangreiche Vortragsreihe das vierte
Hilfsangebot, das meine Arbeit auszeichnete. Nachgefragt werden
meine Vorträge allerdings vor allem von Berufsqualifizierungsgesellschaften,
Sozialstationen und auch an der Klinik der Freien Universität
Berlin. Die angehenden Ärzte sollen lernen, daß es
neben der medikamentösen Therapie auch eine sprechende Medizin
gibt. Außerdem sollen sie darauf aufmerksam gemacht werden,
neben dem Demenzkranken auch den pflegenden Angehörigen zu
beachten.
Seit September 1995 fördert nun die Senatsverwaltung für
Gesundheit und Soziales meine Arbeit. Die Trägerschaft übernahm
das Sozialpädagogische Institut, das auch die Selbsthilfekontaktstelle
im Ostberliner Bezirk Marzahn betreibt. Damit ist in Berlin erstmalig
der Versuch geglückt, aus dem persönlichen Engagement
einer Einzelperson heraus eine - wenn auch nur halbe - Planstelle
zu schaffen und zwar für ein Projekt, das es in dieser Form
in Berlin bis dahin noch nicht gab. Aus meinem allgemeinen Bemühen,
etwas Gutes für die pflegenden Angehörigen Demenzkranker
zu tun, ist ein kleines Netzwerk entstanden, das inzwischen seine
Eigendynamik entwickelt:
Langjährig psychosozial gestützte Angehörige sind
stolz darauf, der Angehörigen-Initiative Berlin anzugehören.
Einige von ihnen entwickeln ein erstaunliches Kräftepotential,
das sie anderen Betroffenen zur Verfügung stellen. Um einander
zu helfen, übernehmen sie Aufgaben wie z. B. die Leitung
ihrer Gesprächsgruppe. Eine Angehörige führt inzwischen
selbständig Beratungssprechstunden durch. Etliche unterstützen
mich bei der Öffentlichkeitsarbeit, vertreten die Angehörigen-Initiative
in Gremien und bieten sich bei Informationsveranstaltungen als
Ansprechpartner an. Das schafft mir den Freiraum, den ich brauche,
um in weiteren Bezirken Berlins entsprechende Aktivitäten
zu entwickeln. Der Projekttitel "Angehörigen-Initiative
Berlin" steht somit für dieses Engagement der pflegenden
Angehörigen.
Das Konzept der Angehörigen-Initiative wird inzwischen aus
ganz Deutschland angefordert und vereinzelt sogar aus dem Ausland.
Auch auf einem internationalem Workshop konnte ich die Arbeit
der Angehörigen-Initiative vorstellen. Das verhalf mir zu
internationalen Kontakten, die mich befähigten, Gelder bei
der Europäischen Union zu beantragen.
Ich denke, es ist deutlich geworden, wie ich intuitiv und pragmatisch
an die ganze Sache herangegangen bin. Dieser Kongreß steht
unter dem Titel "Praktische Umsetzung wissenschaftlicher
Erkenntnisse". Da sich Theorie und Praxis gegenseitig befruchten
sollen, will ich mit meinen positiven Erfahrungen aus der Praxis
Anregungen für alternative bzw. ergänzende wissenschaftliche
Überlegungen bieten. Die Erfahrungen aus meiner Arbeit bestätigen
aber auch viele wissenschaftliche Erkenntnisse.
Ich möchte jetzt auf die Besonderheiten der Angehörigen-Initiative
Berlin zu folgenden Themen hinweisen:
Die Angehörigen nehmen i.d.R mit mir telefonisch Kontakt
auf. Danach kommt es üblicherweise zu einem ersten persönlichen
Gespräch in der Beratungssprechstunde der nächstgelegenen
Selbsthilfekontaktstelle. Den Inhalt dieser Gespräche bestimmen
die Ratsuchenden selbst. Meistens werden problematische Situationen
dargestellt und die daraus resultierenden enormen psychischen
Belastungen. Während dieser ersten - meist stark gefühlsbetonten
- Gespräche wird der Grundstein für ein dauerhaftes
Vertrauensverhältnis gelegt. "Endlich hat mir mal jemand
zugehört und geglaubt!" höre ich häufig am
Ende eines solchen Gespräches. Allein durch mitfühlendes
Zuhören erreichen wir eine erste psychische Entlastung. Trotzdem
kommt es vor, daß Ratsuchende danach keine weiteren Hilfen
in Anspruch nehmen.
In der Beratungssprechstunde erörtere ich auch erste Interventionsschritte
an: Fachärztliche Diagnose, Leistungen der Pflegeversicherung
und Vorsorgevollmacht bzw. die gesetzliche Betreuung. Eine
zeitaufwendige strukturierte Problem- und Zielanalyse kann
ich mit meiner z.Zt. noch halben Planstelle jedoch beim besten
Willen nicht durchführen.
Familienberatungen finden nur auf ausdrücklichen Wunsch der
Ratsuchenden statt. Daran beteiligten sich u.a. auch jugendliche
Kinder bzw. Enkel des Erkrankten. Diese leiden nämlich ganz
besonders unter der aus dem Gleichgewicht geratenen häuslichen
Situation. Im Verlauf dieser Gespräche wecke ich Verständnis
für die schwierige Lebenslage des Kranken und diskutiere
Möglichkeiten des konfliktarmen Umgangs. Solche Gespräche
führten zur Entlastung der Hauptpflegeperson auf zweierlei
Weise:
Zum einen erörterten wir gemeinsam, wer welche Pflegeleistungen
noch in der Familie erbringen kann.
Zum anderen weckte die gemeinsame Sichtweise der neu entstandenen
familiären Situation gegenseitiges Verständnis.
Die Gesprächsgruppen sind das Herzstück meiner Arbeit.
Alle Gruppen werden von nur einer Person geleitet und
nicht - wie vielleicht wünschenswert - von zweien,
z. B. einer Altenpflegerin und einem Psychologen. Wie ich
eingangs bereits erwähnte, bin ich "nur" eine Altenpflegerin.
Mein angelassenes Wissen und meine psychogeriatrische Zusatzausbildung
bei Naomy Feil sind mir zwar wichtig, doch kompetent machen mich
erst meine langjährigen Erfahrungen. Diese praktische Erfahrung
im Umgang mit Demenzkranken ist m. E. unverzichtbar für
eine gute Angehörigenberatung.
Ich begleite meine Gruppen wesentlichlängerals ein Jahr. Oftmals werden Gruppen ja nur für ein
halbes Jahr fachlich geleitet. Mir ist unbegreiflich, wie man
pflegende Angehörige nach einem halben Jahr sich selbst überlassen
kann: Denn auch danach treten - wegen des fortschreitenden Krankheitsverlaufes
- ständig neue psychische und medizinische Probleme auf.
Dafür kann ich doch keine allgemeinen Lösungen auf Vorrat
anbieten, die der pflegende Angehörige sozusagen nur noch
bei Bedarf aus der Schublade zu ziehen braucht. Fast jedes Problem
erfordert auch eine individuelle Lösung - nach einem halben
Jahr genauso wie zu Beginn der Beratung.
Alle Themen der Angehörigenberatung nehmen in den
Gesprächsgruppen etwa gleichen Raum ein, also Wissen, Handeln,
Gefühle und Hilfen. Wir besprechen gemeinsam häufig
auch Themen, die man naheliegenderweise eher zum Gegenstand
einerEinzelberatung machen würde. Dies bedeutet
natürlich, daß der Einzelne in der Gruppe relativ viel
Redezeit braucht. Diese Zeit bekommt auch jeder. Ich bin immer
wieder erstaunt, wie wichtig der Gruppe die scheinbar ganz persönlichen
Probleme des Einzelnen sind. Die anderen ahnen nämlich, daß
das angesprochene "private" Problem für sie früher
oder später sehrwohl relevant werden könnte. Irgendeiner
hat immer auch aus eigener Erfahrung etwas zu diesem Thema beizutragen.
Dies führt mit der Zeit zu einem unglaublichen Zusammenhalt
in der Gruppe.
Ich sagte eben so salopp, daß jeder sein gerüttelt
Maß an Redezeit bekäme. Das geht natürlich nur,
wenn die Gruppen relativ klein sind und bleiben.
Wenn acht Teilnehmer zu einer Gruppensitzung kommen, so empfinden
wir das als eine große Gruppe. in der Literatur werden
dagegen acht Teilnehmer meist als Untergrenze genannt.
Viele Gruppen beginnen mit 12 Teilnehmern. Ich dagegen habe selbst
mit Kleinstgruppen von drei oder vier Pflegenden ebenso erfolgreich
gearbeitet, wie mit meiner durchschnittlichen Gruppengröße
von 6 Angehörigen. Bis jetzt haben alle Teilnehmer
solcher "Minigruppen" den breiten Raum, der ihnen
hier geboten wurde, sichtlich genossen und wirksam genutzt. Dabei
haben sie die intensive Zuwendung, die ihnen in der kleineren
Gruppe zuteil kam, als besonders wohltuend empfunden.
Nachdem des öfteren zehn und mehr Teilnehmer in eine Gesprächsgruppe
kamen, machte ich den Vorschlag, die Gruppe zu teilen. Mein Ansinnen
stieß jedoch auf heftigen Protest. Niemand wollte freiwillig
den "Familenverband" verlassen. Inzwischen ist die Gruppe
durch natürliche Fluktuation auf eine durchschnittliche Größe
geschrumpft. Aus dieser Erfahrung heraus werde ich diese Gruppe
nicht weiter aufstocken, sondern eine zweite einrichten.
Die von mir initiierten Gesprächsgruppen starten nicht mit
einer festen Teilnehmerzahl von z.B. acht Pflegenden. Vielmehr
baue ich die Gruppen pro Stadtbezirk allmählich
auf. Auf diese Weise vermeide ich unzumutbare Wartezeiten.
Sind meine Gruppen nun offene oder geschlosseneGruppen?
Sie sind beides - und doch auch beides wieder nicht: Sie sind
geschlossene Gruppen in dem Sinne, wie auch eine
Familie als "geschlossen" anzusehen ist. D.h. mit
der Zeit scheiden einzelne Mitglieder aus und neue werden aufs
herzlichste aufgenommen. In diesem Sinne ist die Gruppe wiederum
offen. Diese Form der Gruppe bietet gute Voraussetzungen, um gegenseitiges
Vertrauen aufzubauen. Und nur in einer von gegenseitigem Vertrauen
geprägten Atmosphäre sind Angehörige bereit, über
ihre tiefsten Gefühle zu sprechen.
So erwarten auch alle Gruppenmitglieder voneinander regelmäßiges
Erscheinen. Wenn jemand mal unentschuldigt fernbleibt wird stets
nachgefragt. Das Fernbleiben könnte ja ein Hinweis auf eine
kritische Situation sein. Diese rege Anteilnahme am gegenseitigen
Wohlbefinden und das wechselseitige Vertrauen sind das Markenzeichen
der Angehörigen-Initiative Berlin.
Von Anfang an habe ich darauf geachtet, daß den Angehörigen
das Gefühl geboten wird, erwartet zu werden und sie hier
Zuwendung empfangen. Dazu gehört auch eine schöne
Atmosphäre des Gruppenraums. Sie bringt Licht in den
tristen Pflegealltag. Die Gruppenteilnehmer beköstigen sich
nicht nur mit Kaffee und Kuchen, oftmals stellen sie auch Blumen
auf den Tisch. Auch ihr Umgang miteinander ist nicht immer so
ernst wie der schwierige Pflegealltag: Es darf gelacht werden!
Zu erleben, daß trotz fortgeschrittenem Krankheitsprozeß
auch noch Lachen, vorsichtiger Optimismus und Gemeinsamkeit möglich
sind, macht den bedrückenden Pflegealltag erträglicher.
Die Gruppentreffendauern ca. zwei Stunden. Allerdings
kann es dann eine weitere halbe Stunde dauern, bis sich die letzten
Angehörigen voneinander sehr herzlich verabschiedet haben,
nicht ohne sich noch einmal gegenseitig Mut zugesprochen zu haben.
Wie wohltuend diese Art von Gruppenführung empfunden wird,
drückt eine Pflegende mit folgenden Worten aus: "Mit
hängenden Flügeln bin ich gekommen und beflügelt
gehe ich jetzt nach Hause."
Die Demenzkranken werden grundsätzlich in einem Nebenraum
fachlich betreut. Auch ihnen werden Getränke und Gebäck
geboten. Die Trennung der beiden Gruppen ermöglicht es den
Angehörigen, frei über ihre Probleme zu sprechen, ohne
das ohnehin labile Selbstbewußtsein der Kranken weiter zu
beschädigen. Auch können Angehörige weinen, ohne
daß das die Kranken beunruhigt.
Gelegentlich unternehme ich mit den Angehörigen und ihren
Kranken auch Ausflüge z.B. in ein geschmackvoll eingerichtetes
Café. Ein gediegenes Ambiente, frische Blumen auf dem Tisch
und leuchtende Kerzen bewirken eine innere Entspannung sowohl
bei den Kranken als auch bei den Angehörigen. Die Sicherheit
der Gruppe bietet einen beschützenden Rahmen, der für
alle Beteiligten ein Stück Normalität wieder herstellt
- wenn auch nur für kurze Zeit. Doch von diesen Erlebnissen
zehren alle Beteiligten noch recht lange. Außerdem macht
das auch Mut, so etwas auf eigene Faust zu wagen.
Alles was ich bis jetzt erzählt habe, leiste ich im Prinzip
weiterhin ehrenamtlich. Denn allein mit der Arbeit am Telefon
ist meine halbe Stelle schon ausgeschöpft. Dazu gehören
die Kontaktaufnahmen, organisatorischen Telefonate und auch meine
zahlreichen telefonischen Gespräche mit Sozialleistungsträgern.
Ständig werde ich mit Problemen aus dem eingangs dargestellten
äußeren Spannungsfeld konfrontiert. Dieses Spannungsfeld
stellt für die pflegenden Angehörigen eine zusätzliche
enorme Belastung dar.
Ich versuche deshalb, auf die Sozialleistungsträger Einfluß
zu nehmen, damit diese ihre Leistungen qualitätsgerecht bereitstellen.
Die Ignoranz, der ich mich dabei ausgesetzt sehe, ist schier unglaublich!
Ich kann damit umgehen, die meisten Angehörigen aber nicht.
Deshalb mache ich mich für sie stark. Darauf werde ich gleich
noch ausführlich eingehen.
In erster Linie stellt die telefonische Beratung in kritischen
Situationen die wirkungsvollste Ergänzung zur
Beratungssprechstunde dar. Ich wiederhole es noch einmal: Allein
die Gewißheit, immer aufgefangen zu werden, gibt vielen
die Kraft zum Durchhalten. Eine Telefonnummer als Rettungsanker!
Auch das ist sprechende Medizin. Eine Medizin, die von den pflegenden
Angehörigen übrigens sehr verantwortungsbewußt
in Anspruch genommen wird.
Viele der pflegenden Angehörigen suchen und finden auch untereinander
Beistand. Das geschieht zwar meistens telefonisch, doch besuchen
sich die Angehörigen mit den Kranken auch gegenseitig. Und
das ist eine weitere Besonderheit der Angehörigen-Initiative
Berlin.
Aufwendiger, intimer persönlicher ist der Hausbesuch - für
mich eine Chance, das private Umfeld kennen zu lernen. Nur so
bin ich in der Lage, praxisgerechte Tips zur Erleichterung
der Pflegesituation geben zu können. Einen ersten Hausbesuch
mache ich möglichst bald nach der Kontaktaufnahme - danach
nur noch in großen Abständen. Bei Angehörigen,
die keine familiäre Unterstützung erhalten, würde
ich liebend gerne Hausbesuche in kürzeren Abständen
manchen. Jedoch - ich kann mich nicht zerreißen.
Viel zu kurz kommen vor allem die Angehörigen, die aufgrund
ihrer Pflegesituation immobil geworden sind. Dabei wäre diese
Arbeit so wirkungsvoll. "Ich habe Angst, das Sprechen zu
verlernen, wenn Sie nicht mehr kommen" sagte mir oft ein
pflegender Ehemann. Über zwei Jahre lang habe ich ihn und
seine demenzkranke Frau alle vierzehn Tage regelmäßig
besucht. Durch diese kontinuierliche Betreuung war es ihm möglich,
seine Frau zuhause zu versorgen, bis sie schließlich in
seinen Armen ganz ruhig und zufrieden starb. Er ist glücklich
darüber, ihr bis zum letzten Atemzug die notwendige Geborgenheit
gegeben zu haben, die sie brauchte.
Die Not der allein Pflegenden, die aufgrund der Pflegesituation
immobil geworden sind, ist riesengroß - aber klein die Zahl
derjenigen, die sich darum kümmern, diese Not zu lindern.
Jetzt noch eine kurze Anmerkung zum Thema Kurse für pflegende
Angehörige: Der von mir ausgearbeitete Kurs für pflegende
Angehörige "Über den einfühlsamen Umgang mit
den Defiziten der Demenzkranken", verfolgte zwei Ziele:
Zum einen wollte ich mit den Kursteilnehmern eine Gesprächsgruppe
aufbauen.
Zum anderen sollte die inhaltliche Arbeit der Gesprächsgruppen
von der reinen Wissensvermittlung entlastet werden.
Allein, die Krankenkassen, die ja Kurse für pflegende Angehörige
anbieten, waren zu keiner Kooperation bereit. So ist wegen des
fehlenden systematischen Zugangs zur Zielgruppe bislang nur ein
einziger Kurs dieser Art zustande gekommen - und auch der war
noch zur Hälfte mit Pflegefachkräften besetzt. Seit
Neuestem scheint sich aber hier zumindest eine große Krankenkasse
endlich zu bewegen.
Auch zur instrumentellen Hilfe nur eine kurze Anmerkung:Mit
steigendem Bekanntheitsgrad der Angehörigen-Initiative Berlin
wuchsen auch die Kontakte zu zahlreichen Einrichtungen des Altenhilfebereiches.
Ich gebe die Informationen über diese Einrichtungen an die
pflegenden Angehörigen weiter und zwar bei allen genannten
Beratungsformen. Allerdings tauschen die Angehörigen
ihre positiven und negativen Erfahrungen mit diesen Einrichtungen
auch direkt aus.