Inhalt:
- Projektumfeld
- Stellenwert der Hausbesuche
- Pflegende Angehörige, die aufgrund ihrer Pflegesituation immobil
geworden waren, wurde die Teilnahme an der fachlich geleiteten Angehörigengruppe ermöglicht.
- alleinpflegende Angehörige,
wurden durch die Gerontosozialtherapeutin zuhause entlastet und
erhielten praxisnahe Anleitungshilfen.
- Bei Demenzkranken,
die sich in der Krankengruppe unproblematischer verhalten als
zuhause, suchte die Gerontosozialtherapeutin nach Ansatzpunkten,
wie im häuslichen Umfeld das Verhalten positiv beeinflußt
werden kann.
- Ausblick
- Fallbeispiel:
Hausbesuche als wertvolle Ergänzung der Gruppenaktivitäten
Die Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V. verfolgt
das Ziel, ein enges und umfassendes Betreuungsnetz für pflegende
Angehörige von Demenzkranken aufzubauen. Mit einem Bündel
von unterstützenden Maßnahmen will die Alzheimer Angehörigen-Initiative
e.V. die Pflegenden psychisch entlasten, insbesondere will sie
ihnen helfen, ihre soziale Isolation zu durchbrechen. Weiter will
der Verein die Bereitschaft der Angehörigen zur Pflege fördern
und ihre Pflegekompetenz erhöhen. Die Aktivitäten der
Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V. richten sich in erster
Linie an pflegende Angehörige Demenzkranker, um ihnen zu
helfen, ihr Belastungserleben zu bewältigen. Darüber
hinaus erhöht die Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V.
über den pflegenden Angehörigen auch am wirkungsvollsten
die Lebensqualität des Demenzkranken selbst.
Die pflegenden Angehörigen können aus mehreren
Hilfsangeboten diejenigen auswählen, die sie in ihrer speziellen
Lebenslage am dringendsten brauchen. Die Alzheimer Angehörigen-Initiative
e.V. leitet Gesprächsgruppen - alle mit gleichzeitiger Krankenbetreuung
-, führt persönliche und telefonische Beratungen durch
und macht Hausbesuche.
Damit die Angehörigen diese Hilfen überhaupt
in Anspruch nehmen können, bietet die Alzheimer Angehörigen-Initiative
e.V. ihre Hilfsangebote dezentral an. Derzeit ist die Alzheimer
Angehörigen-Initiative e.V. in neun Berliner Stadtbezirken
Berlins aktiv. Langfristiges Ziel ist die flächendeckende
Versorgung Berlins.
Anfänglich konnte nach der Kontaktaufnahme nur
bei einigen Angehörigen ein einmaliger Hausbesuch stattfinden.
Er diente dazu, das häusliche Umfeld kennen zu lernen. So
können am wirkungsvollsten praxisgerechte Hinweise zur Erleichterung
der Pflegesituation gegeben werden.
Bei Pflegenden, die keine familiäre Unterstützung
erhalten, waren jedoch Hausbesuche in kürzeren Abständen
erforderlich. Die Angehörigen, die aufgrund ihrer Pflegesituation
immobil geworden sind, leiden am meisten unter der von sozialer
Isolation gekennzeichneten Lebenslage. Für diesen Personenkreis
waren regelmäßige Hausbesuche erforderlich, die die
Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V. wegen fehlender Kapazität
jedoch zunächst nicht leisten konnte.
In dieser Situation gewährte das Bezirksamt
Marzahn Mittel zur Finanzierung einer Gerontosozialtherapeutin,
die mit 10 Std. wöchentlich beschäftigt wurde, um zusätzliche
Hausbesuche durchzuführen. Es fanden pro Woche drei Einsätze
in Marzahn zu je drei Stunden statt. Die verbleibende Stunde wurde
zum regelmäßigen Informationsaustausch mit der Leiterin
der Beratungssprechstunden und Angehörigengruppen in Marzahn
genutzt. Durch diesen Informationsaustausch konnten Erkenntnisse
über das häusliche Umfeld bei den Einzel- und Gruppenberatungen
mit berücksichtigt werden. So konnte die Gerontosozialtherapeutin
z.B. mitteilen, welche Anpassungen des häuslichen Umfeldes
an den fortschreitenden Krankheitsverlauf ihr sinnvoll erscheinen.
Mit dem zusätzlichen Leistungsangebot wurden
folgende Versorgungslücken geschlossen:
2.1 Pflegende
Angehörige, die aufgrund ihrer Pflegesituation immobil
geworden waren, wurde die Teilnahme an der fachlich geleiteten
Angehörigengruppe ermöglicht.
Die Isolation, in der sich Demenzkranke zusammen
mit ihren pflegenden Angehörigen befinden, kann oftmals deshalb
nicht durchbrochen werden, weil die Mobilität der Betroffenen
erheblich einschränkt ist. Ein Grund hierfür ist z.B.
die häufige Weglauftendenz und Desorientierung des Kranken.
Der Großstadtverkehr stellt eine erhebliche Gefahr für
Leib und Leben des Kranken dar. Der pflegende Angehörige
kann die Wohnung ebenfalls nur für kurze Zeit verlassen,
da der Kranke der Beaufsichtigung bedarf, ohne die er sich selbst
sowie Hab und Gut erheblich schädigen würde.
Der Hausbesuch der Gerontosozialtherapeutin ermöglichte
es zwei auf diese Weise immobil gewordenen Angehörigen, weiterhin
an der Gesprächsgruppe teilzunehmen. Dadurch konnten diese
Angehörigen auch weiterhin wichtige Informationen über
die Krankheit und den angemessenen Umgang erhalten. Durch Thematisierung
ihrer bedrückenden Gefühle wurden sie psychisch entlastet
und ihre soziale Isolation durch die Gemeinschaft mit Gleichbetroffenen
reduziert.
Der Demenzkranke wurde währenddessen in seinem
häuslichen Umfeld unter Berücksichtigung seiner Restfähigkeiten
therapeutisch aktiviert. Dies half ebenfalls, die soziale Isolation
des Kranken zu reduzieren.
2.2 alleinpflegende
Angehörige, wurden durch die Gerontosozialtherapeutin
zuhause entlastet und erhielten praxisnahe Anleitungshilfen.
In der Gesprächsgruppe erworbenes Wissen ist
nicht immer ohne weiteres in die Tat umzusetzen. Außerdem
gibt es nicht für jedes Problem eine eindeutige Lösung.
Demenzerkrankungen erfordern daher vom Pflegenden viel Phantasie
und Einfühlungsvermögen. Sämtliche Faktoren wie
die konkrete Gestaltung des häuslichen Bereichs und des Umgangs
der Betroffenen miteinander müssen berücksichtigt werden.
In Kenntnis des häuslichen Umfeldes zeigte die
Gerontosozialtherapeutin unmittelbar am aktuellen Problem alternative
Herangehensweisen auf. Solche praxisbezogenen Hinweise und Ratschläge
vor Ort wirkten sich erheblich erleichternd auf den Pflegealltag
aus.
Auch dabei verminderte die Gerontosozialtherapeutin
die soziale Isolation der Betroffenen. Vor allem für einen
pflegenden Angehörigen, der die Hilfsangebote Beratungssprechstunde
und Gruppenaktivitäten aufgrund der schwierigen Pflegesituation
nicht nutzen konnte, war die Gerontosozialtherapeutin der einzige
nennenswerte soziale Kontakt auf gleicher Ebene.
2.3 Bei Demenzkranken,
die sich in der Krankengruppe unproblematischer verhalten als zuhause, suchte die
Gerontosozialtherapeutin nach Ansatzpunkten, wie im häuslichen Umfeld das Verhalten positiv beeinflußt
werden kann.
Hin und wieder zeigen Demenzkranke in der Gruppe
ein anderes Verhalten als zuhause. So kommt es z.B. vor, daß
sich ein Kranker daheim nur stumm passiv verhält, wogegen
er sich in der Krankengruppe aktiv am Gruppengeschehen beteiligt
und sich sogar verbal äußert.
In diesem und ähnlich gelagerten Fällen
half die Gerontosozialtherapeutin herauszufinden, wie der Kranke
zuhause so aktiviert werden konnte, daß der fortschreitende
Krankheitsverlauf durch körperliche und geistige Stimulation
günstig beeinflußt wurde.
Hierzu analysierte sie die Beziehung zwischen dem
Demenzkranken und seinem pflegenden Angehörigen sowie die
häusliche Situation und besprach diese mit dem Pflegenden
und zeigte Alternativen auf.
Zusammen mit den bestehenden Leistungsangeboten der
Alzheimer Angehörigen-Initiative e.V. führte das Projekt
zu einer für ganz Berlin und Umgebung einmaligen Versorgungsqualität
für Demenzkranke und ihre Angehörigen. Um die mit diesem
Projekt aufgezeigte Lücke in der Versorgungsstruktur Demenzkranker
zu schließen, wird sich die Alzheimer Angehörigen-Initiative
e.V. 1998 um Fördermittel bemühen, damit dieses Hilfsangebot
erhalten und noch weiter ausgebaut werden kann.
Wie das folgende - aus Sicht der Gerontosozialtherapeutin
dargestellte - Fallbeispiel zeigt, wurde durch die regelmäßigen
Hausbesuche ein wichtiger Beitrag geleistet, um eine drohende
Heimeinweisung zu verzögern oder sogar zu verhindern.
3. Fallbeispiel:
Hausbesuche als wertvolle Ergänzung der Gruppenaktivitäten
Heute mache ich wieder einen Hausbesuch bei seit
dem seit 35 Jahren verheirateten Artistenehepaar Sch. Der alzheimerkranke
Mann öffnet mir die Tür. "Oh, welche Überraschung!"
freut er sich, "Da kommt ja wieder meine alte Abeitskollegin
Helga. Komm rein." "Ja, Herr Sch.," antworte ich
"wir haben schon so manches nette Stündchen miteinander
verbracht." Das war nicht gelogen, denn Herrn Sch. betreue
ich auch in der Krankengruppe, die immer dann stattfindet, wenn
Frau Sch. die Geprächsgruppe für pflegende Angehörige
Demenzkranker besucht.
Frau Sch. begrüßt mich mit leiser Stimme.
sie sieht erschöpft aus und klagt über schwerzen am
ganzen Körper. Sie lädt mich erst einmal zu einem Glas
Tee ein. Ich setze mich neben Herrn Sch. und beobachte, daß
Herr Sch. greift zwar zum Glas, führt es aber nicht zum Mund.
Frau Sch. wird bereits ungeduldig uns sagt: "So geht das
immer, für die einfachsten Dinge braucht er eine Ewigkeit."
Ich hebe mit dem Zeigefinger leicht seinen rechten Unterarm an.
Herr Sch. greift das Glas fester und führt es - gelenkt durch
meinen leichten Druck - weiter zum Mund. Kurz bevor das Glas dem
Mund berührt, beginnt er den Handlungsablauf selbständig
zu Ende zu führen. Ich erkläre Frau Sch. daß ihr
Mann jetzt immer öfter eine kleine Starthilfe benötigt,
damit er so lang wie möglich seine Selbständigkeit bewahrt.
Sie solle ihren Mann ruhig auch für ganz kleine erfolge loben,
rate ich, denn das hebt sein Selbstwertgefühl und macht ihn
zufriedener.
Herr Sch. beginnt davon zu erzählen, daß
er kürzlich wieder einen großen Auftritt als Jongleur
hatte und wie gut ihm seine Assistentin dabei geholfen habe. "Aber
Richard, deine Assistentin, das war doch ich! Und unseren Letzen
Auftritt hatten wir vor über 20 Jahren," fährt
Frau Sch. dazwischen. "Was Du immer redest! Meine Assistentin
hat rote Haare und sieht ganz anders aus," entgegnet Herr
Sch. sichtlich erregt. Ich lasse mir das Photoalbum von ihren
Zirkusauftritten geben und eige Herrn Sch. ein großes Foto
von ihm und seiner Frau. "Da, das ist sie!," sagt her
Sch. triumphierend und auch Frau Sch muß lächeln: "Ja,
das war ich. Ach war das eine schöner Zeit!"
Wir plaudern ein wenig über ihre früheren
Erfolge und Herr Sch. wird ruhiger und beschreibt mir verblüffend
genau einen komplizierten Jongliervorgang. Da bekommt auch Frau
Sch. leuchtende Augen und nun schwelgen beide in der Erinnerung.
Sie lachen zusammen und Herr Sch. sagt: "Du bist meine Beste."
Später erkläre ich Frau Sch., die häufig ihren
Mann korrigiert, daß es günstiger ist, auf die Dinge
einzugehen, die für Ihren Mann aus der Vergangenheit auftauchen.
Das seien die letzten Erinnerungsinseln, auf denen er seine Identität
findet. Ich rate Frau Sch. mit ihrem Mann - so gut es noch eben
geht - weiter zu jonglieren oder chinesische Kugeln in der Hand
zu rollen.
Ich frage Frau Sch. ob sie weiter abgenommen hätte.
Sie antwortet, daß ihr Abnehmen seelische Ursachen habe,
sie fühle sich überfordert durch die ständige Verantwortung
für ihren Mann. Alle Freunde hätten sich zurückgezogen
und Ihre Tochter lebe ich Bayern. So komme es vor, daß sie
tagelang kein normales Gespräch führen könne. Darum
täte es ihr so gut mit mir zu reden und so aus ihrer Isolation
herauszukommen. Die Gesprächsgruppe und meine Hausbesuche
seien ihr eine große Hilfe. Ohne diese Unterstützung
könne sie die Pflege ihres Mannes nicht bewältigen.
Ich biete ihr an, mich jederzeit anzurufen, wenn es ihr nicht
gut geht. Dies Angebot nimmt sie dankend an, das sei ihr eine
große Hilfe. Bei einem solchen Telefongespräch erörterten
wir beide einmal die Möglichkeiten für einen Urlaub
von der Pflege.
In der Krankengruppe fühlt sich Herr Sch. sehr
wohl und akzeptiert. Er erzählt viel, was wir alles noch
lernen müßten. Sein Selbstwertgefühl steigt, er
fühlt sich als unser Lehrer. Wir singen Lieder zusammen.
Herr Sch. singt gerne mit und kennt alle Texte. Durch die Musik
bleiben noch viele Erinnerungen erhalten. Beim Ballspielen ist
er noch immer sehr geschickt und auch stolz darauf. Am Ende der
Gruppe sieht er glücklich aus. In der Gruppe ist er abgelenkt
und hyperaktiv. Er spricht auch danach mit seiner Frau noch viel
von der Gruppe. Ich knüpfe an diese Erfahrungen an, wenn
ich Herrn Sch. zuhause in depressiver Stimmung vorfinde.
Zuhause erlebe ich nämlich Herrn Sch. oft traurig.
Er spürt seine Krankheit. Ich spreche mit ihm darüber
und bin ihm dadurch gefühlsmäßig sehr nahe. Beide
formen der Betreuung - Gruppe und Hausbesuche - sind für
Herrn Sch. wichtig, damit noch vorhandenen Fähigkeiten möglichst
lange erhalten bleiben. Hr. Sch. sagt mir ganz kalr, wie schön
es sei, daß ich ihn besuche.
Während der sechs Monate, in denen ich die Hausbesuche
durchführte, konnte ich Herrn Sch. so unterstützen,
daß sich sein Krankheitszustand nicht weiter verschlechtert
hat. Frau Sch. habe ich emotional und mit Ratschlägen unterstützen
können. Das half ihr, die Pflege weiterhin zu bewältigen.
Ihr Gesundheitszustand stabilisiert sich allmählich.
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